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Graubünden (Schweiz): Winter ist die beste Zeit zum Wandern - WELT

Da drüben laufen sie – sieben oder acht Schneeschuhgänger. Vorn der Führer, leichtfüßig, dahinter seine Schäfchen, noch unbeholfen. Auf untergeschnallten Schneeschuhen stapfen sie ins Gebirge hinauf. Naturfreaks oder Trendsportler? Wahrscheinlich beides. Es heißt, sich auf der Höhe der Zeit zu bewegen.

Wir hingegen sind die Dinosaurier des Freizeitgeschehens. Mit profanen Wanderschuhen durchschreiten wir die Winterlandschaft, ganz so, als ob wir die Jahreszeit verwechselt hätten – ohne cooles Stirnband, ohne Logos der Outdoorindustrie.

Statt Spuren in den unberührten Schnee zu treten, begnügt sich der Winterwanderer mit den Wegen, die die Verkehrsämter gepfadet und ausgeschildert haben. Nichtskifahrer, die sich nach dem Essen einfach nur ein bisschen die Beine vertreten wollen? Das war früher.

Seit die Winterwanderwege nicht mehr an der Gemeindegrenze enden, kann man richtige Tagestouren machen, vormittags zwei bis drei Stunden laufen, dann gemütlich einkehren, noch mal ein gutes Stück weitergehen und schließlich mit Bus oder Bahn zurück- oder weiterfahren. Man kann sogar eine richtige Wanderreise durch den Schnee machen, wie man dies sonst nur im Sommer oder Herbst tut.

Im Winter der reizvollste Wanderweg in der Schweiz

In der Schweiz – und überhaupt in den Alpen – bieten sich drei Täler für ein mehrtägiges Wintertrekking besonders an: das Unterengadin (wo man obendrein noch sein Gepäck transportiert bekommt), das Oberengadin (weniger attraktiv, weil verbaut und überlaufen) und das Vorderrheintal.

Auf Rätoromanisch heißt die Gegend Surselva, „oberhalb des Waldes“, auf Deutsch sagt man auch Bündner Oberland. Es ist ein inneralpines Tal, in das Schlechtwettergebiete aus dem Norden oder Westen so gut wie nie vordringen.

Zudem kann man einer historischen Säumerroute folgen, die auf halber Höhe von Dorf zu Dorf führt und mit „Senda Sursilvana“ beschildert ist. Es ist die reizvollste Winterwanderroute der Schweiz, deshalb sind wir hier unterwegs.

Graubünden (Schweiz): Im Winter sind nicht alle Wanderwege in der Surselva geräumt
Wegweiser im Tiefschnee: Im Winter sind nicht alle Wanderwege in der Surselva geräumt
Quelle: Gerhard Fitzthum

Der verschneite Fernwanderweg ist leider nicht auf voller Länge vom Schnee geräumt. Es liegen einige nichttouristische, vergleichsweise arme Gemeinden an der Strecke, die die Initiative nicht unterstützen.

Wer das Tal in voller Länge auskosten will, steigt deshalb für einzelne Passagen in den Bus. Die besonders schönen Teilstücke werden aber zuverlässig präpariert – rund um Sedrun etwa, wo wir heute Morgen gestartet sind.

Keine Spur von Liftanlagen und Ferienhäusern

Um dem Gravitationsfeld des dortigen Skigebiets zu entrinnen, hat es nur wenige Schritte gebraucht. Der Winterwanderweg ist hier mit der historischen „Senda Sursilvana“ identisch und folgt obendrein der ebenfalls im Rheintal verlaufenden Schmalspurtrasse der Rhätischen Bahn. Wenn nicht gerade ein Zug vorbeifährt, ist die Stille atemberaubend. Man hört nur das sanfte Knarzen des Schnees unter den Profilsohlen.

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In Disentis führt der Winterwanderweg direkt zur berühmten Klosterkirche. Am eindrucksvollsten ist es dort abends um sechs Uhr, wenn die Benediktinermönche auf der Empore ihre Betgesänge anstimmen. Der Ort selbst ist dagegen etwas trostlos.

Um so begeisterter sind wir, als wir am nächsten Tag in Schlans aus dem Postbus steigen, der in der Schweiz Postauto heißt: Keine Spur von Liftanlagen, Ferienhausarealen und Großparkplätzen, von denen die Alpendörfer gemeinhin umzingelt sind. Schlans ist geblieben, was es einmal war: eine Ansammlung von imposanten Bündner Holzhäusern, Bausünden sind nirgendwo zu sehen.

Hier sind die Alpen noch ursprünglich schön

In Ilanz zweigt das Val Lumnezia ab, das Winterwanderer keinesfalls rechts liegen lassen sollten. Weil man im größten Seitental der Surselva die touristische Entwicklung ein bisschen verschlafen hat, erstrahlt die Landschaft hier noch in ihrer ursprünglichen, sakralen Schönheit.

Graubünden (Schweiz): Drei Wanderer überqueren im abgeschiedenen Seitental Val Lumnezia eine Brücke
Drei Wanderer überqueren im abgeschiedenen Seitental Val Lumnezia eine Brücke
Quelle: Gerhard Fitzthum

Inzwischen sind praktische alle Orte und Weiler in dem kleinen Tal auf perfekt präparierten Winterwanderwegen erreichbar – und das fernab der Fahrstraßen. Höhepunkt ist die neu gebaute „Senda Culturale“, die bis zum weltfernen Talende hinaufführt.

Zum Bilderbuchdorf Vrin ist ein schmales Weglein gespurt, das sich durch den Winterwald schlängelt. Unberührter Schnee, soweit das Auge reicht, ab und zu gurgelt irgendwo ein Bächlein, Spuren von Fuchs und Hase führen ins Unterholz, über den Wipfeln alter Weißtannen kreist ein Steinadlerpaar. Anderswo würde man Schneeschuhe oder Tourenski brauchen, um der Natur noch so nah zu kommen.

Im Skigebiet eine Begegnung der dritten Art

Zurück im Haupttal wartet nach so viel Beschaulichkeit eine ziemliche Herausforderung. Dort muss nämlich die „Alpenarena“ von Laax-Flims passiert werden, das einzige Großskigebiet im Vorderrheintal. Tatsächlich müssen wir kurz vor Falera vor Snowboard-Freeridern in Deckung springen, die auf dem Wanderweg zurück ins Skigebiet rasen.

Eine Begegnung der dritten Art erleben wir auch auf der Café-Terrasse von Laax-Murschetg, die mit buntem Skivolk besetzt ist. Wir werden angeschaut, als ob wir vom Mond kämen. Auch das Personal beäugt uns skeptisch. Hier hält man winterliche Rucksackträger offenbar für die Landstreicher des Gebirges. Winterwanderer, die Clochards im Ski-Zirkus – ein hübscher Gedanke!

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Beim Bezahlen kommen wir doch noch ins Gespräch. Wie so viele Bündner Gastronomieangestellte stammt die Kellnerin aus Portugal. Ob es im Winter nicht zu kalt sei zum Wandern, fragt sie uns in holprigem Schwyzerdütsch. Das Gegenteil ist natürlich der Fall.

Im Grunde gibt es keine bessere Jahreszeit für das Wandern als den Winter. Die Luft ist klar und trocken, vom eigentlichen Feind des Fußgängers, der Hitze, fehlt jede Spur. Man kann, je nach Wetter, immer genau so viel an- oder ausziehen, dass man nicht ins Schwitzen kommt. Und wenn die Sonne scheint, ist es warm genug, um sich auf eine Bank zu setzen und den Pullover abzustreifen.

„Wege in Weiß“ auf einer Länge von 1200 Kilometern

Kein Wunder, dass die Zahl der Winterwanderer in den letzten Jahren zugenommen hat – vor allem in der Schweiz, wo die Entschleunigung im Schnee am professionellsten vermarktet wird. Ganz freiwillig ist dieses Engagement der Wintersportregionen allerdings nicht passiert: Die Wintergäste machten Mitte der 90er-Jahre nämlich plötzlich nicht mehr, was man von ihnen gewohnt war.

Statt sich gleich am Anreisetag ein Liftabonnement für die gesamte Aufenthaltsdauer zu kaufen, gingen sie am ersten Tag spazieren, am nächsten ins Erlebnisbad und erst am dritten auf die Piste, und auch nur dann, wenn die Wetterbedingungen dafür ideal waren.

Graubünden in der Schweiz
Quelle: Infografik WELT

Um diesen „multioptionalen“ Gast auch an den skifreien Tagen ans Kassenhäuschen zu locken, erfand man den Panoramawanderweg mit Seilbahnbenutzung. Die Vereinigung der Schweizer Bergbahnbetreiber hat eine Broschüre ins Netz gestellt, auf der rund 200 „Wege in Weiß“ portraitiert werden – Gesamtlänge 1200 Kilometer.

Nun ist er also wieder willkommen, der Fußgänger im Schnee, jener vermeintliche Billigurlauber, den man während der Boomzeiten des Skitourismus mancherorts gar nicht erst auf den Sessellift lassen wollte.

Ein Highlight der Strecke des Glacier Express

Ein paar Kilometer weiter folgt ein markanter Kulissenwechsel: Wir sind in den Flimser Wald eingetaucht, in jene Urlandschaft mit Riesenbäumen, Kratern und zugefrorenen Seen, die sich nach dem größten Bergsturz der europäischen Vorgeschichte gebildet hat.

Nach dem Abschmelzen der Eiszeitgletscher rutschten vor rund 10.000 Jahren zwölf Milliarden Kubikmeter Fels zu Tal und versperrten dem Rhein den Weg. Seither gräbt er sich immer tiefer in die fein zerriebene Gesteinsmasse, wodurch die Rheinschlucht, eine Art Grand Canyon der Schweiz, entstanden ist.

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Hundert Meter von Conn entfernt, nahe eines nur zu Fuß erreichbaren historischen Ausflugslokals, stehen wir schaudernd am Abgrund. Im Winter gibt es unten nicht einmal einen Wanderweg – nur die Ruinaulta-Trasse der Rhätischen Bahn, eines der Highlights der Glacier-Express-Strecke, verläuft dort.

Neue Erkenntnisse über den Schnee

In Trin beginnt die Sutselva, jener Teil des Vorderrheintals, der unter (sut) dem Wald liegt. In Richtung der Bündner Kantonshauptstadt Chur absteigend geht es mit der weißen Pracht langsam zu Ende. Im Schneematsch versinkend, merken wir, wie sehr wir in den letzten Tagen zu differenzieren gelernt haben.

Wie Arktisbewohner unterscheiden wir nun mindestens zehn jener Aggregatzustände von Wasser, die gemeinhin Schnee genannt werden. Mal ist er pulvrig, mal körnig, mal grießig, mal pappt er an den Sohlen fest, mal schmatzt er als wässrige weiße Masse unter den Schritten, mal knirscht es trocken.

Morgens und abends kommt noch das Blankeis dazu, das ebenfalls in zwei Versionen auftritt. Im ersten Fall liegen die gestreuten Splittkörner oben drauf und geben Halt, im zweiten sind sie während der mittäglichen Tauphase unter die Oberfläche versunken und die Eisschicht hat sich über ihnen wieder geschlossen. Dass man beides nicht ungestraft verwechselt, bekommt man als Winterwanderer mehr als einmal zu spüren.

Experten untersuchen in Lawinenbunkern die Stärke von Schneeabgängen

Um mehr über Lawinen zu erfahren, wagen sich Experten in extreme Situationen. In so genannten Lawinenbunkern beurteilen sie die Schneeabgänge, um mit den Ergebnissen Schutzmaßnahmen zu erarbeiten.

Quelle: WELT/ Viktoria Schulte und Mick Locher

Tipps und Informationen

Anreise: Mit dem ICE bis nach Chur, dort umsteigen in die Rhätische Bahn (rhb.ch). Bis Tschamut am oberen Talende haben praktisch alle Orte Haltestellen, zu manchen muss man aber noch ein ganzes Stück aufsteigen.

Tipps für Winterwanderer: In der Surselva gibt es mehrere Hundert Kilometer gespurte Winterwanderwege. Die Fernwanderroute „Senda Sursilvana“ ist mit pinkfarbenen Wegtafeln markiert. Es gibt auf dem Weg einige im Winter unpassierbare Stellen, fast immer aber Alternativen im Talgrund. Teilstücke sind auch per Postbus miteinander verbunden (postauto.ch). Will man das ganze Vorderrheintal durchqueren, sollte man sich eine Woche Zeit nehmen und unbedingt auch das Seitental Val Lumnezia einbeziehen.

Unterkunft: „Casa Selva“ in Trin Digg, von Chur aus im Stundentakt mit dem Postbus erreichbar; idealer Einstiegsort, der Gastwirt gibt Tipps für Wanderungen, Doppelzimmer ab 160 Franken mit Halbpension, casaselvatrin.ch. „Hotel Gravas“ in Vella (Val Lumnezia), Doppelzimmer ab 100 Franken, hotelgravas.ch. „Lazy Mountain“ in Ladir, einfache, gepflegte Unterkunft mit Duschen und WC auf der Etage, Doppelzimmer mit Frühstück ab 60 Franken, lazy-mountain.ch.

Weitere Infos: myswitzerland.com; surselva.info/Winter/Winterwandern; graubuenden.ch

NEWPACK
Quelle: WamS

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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2019-11-25 06:46:00Z
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